Die unterschiedlichen Formen von Gewalt

2. Strukturelle Gewalt

„Der Begriff strukturelle Gewalt beschreibt Benachteiligungen von Menschengruppen, meist Minderheiten aufgrund vorgegebener gesellschaftlicher Strukturen. Zum Wesen von struktureller Gewalt gehört, dass sie ausgeübt wird, ohne dass sich jemand persönlich schuldig fühlt, weil sie den üblichen Normen, Regeln und Richtlinien entspricht“(Olbricht, 2004). Sie findet sich in gesellschaftlichen Sichtweisen, politischen Vorgaben, theoretischen Hintergründen oder finanziellen Gegebenheiten wieder. Die Unterscheidung von struktureller und personaler Gewalt ist dabei nicht immer eindeutig (ebd.). Frauen mit Behinderung sind in doppeltem Maße von struktureller Gewalt betroffen, zum einen aufgrund der größeren Abhängigkeit aufgrund ihres Behindertenstatus, zum anderen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit. Darüber hinaus ist ein direkter Zusammenhang zwischen struktureller und personaler Gewalt erkennbar. Individuelle Gewalt ist immer in strukturelle Herrschaftsverhältnisse eingebettet. Wichtig zu betonen ist jedoch, dass nicht jede Machtstruktur zwangsläufig auch zur Ausübung von Gewalt führen muss, wohl aber potentielle Gewalt innehat.(Sauer, 2002, in: Dackweiler/Schäfer, 2002)
Das gesellschaftliche Machtungleichgewicht zwischen den Geschlechtern und die mit ihr einhergehende strukturelle Gewalt  spiegelt sich auch in der Gewalt, die Frauen im sozialen Nahraum erleben wider, wo Frauen am meisten Opfer von Gewalt werden (BMFSFJ, 2003). So wird das gewalttätige Verhalten häufig bewusst oder unbewusst zur Ausübung von Macht und Kontrolle eingesetzt. Es geht einher mit ausgeprägten männlichen Anspruchshaltungen und Dominanzvorstellungen. Somit ist die individuelle Gewalt gegen Frauen abhängig von  kulturellen und sozial strukturellen Geschlechtervorstellungen. Das asymmetrische Geschlechterverhältnis kann also als ein strukturelles Bedingungsmerkmal für Gewalt von Männern gegen Frauen ausgemacht werden.
Ein geschlechtersensibler Gewaltbegriff muss daher Gewalt immer in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsstrukturen verorten. Das bedeutet anders herum aber auch, dass es auch  Frauen gibt, die ihre Machtposition gegenüber Männern oder anderen Frauen in Form von Gewalt ausnutzen und man nicht die Augen verschließen darf vor der Tatsache, dass auch Frauen zu Täterinnen werden. Neben den strukturellen Gewaltformen, die sich durch das ungleiche Geschlechterverhältnis ergeben, sind Frauen mit Behinderung aufgrund ihrer Beeinträchtigung zusätzlich noch in einer ganz anderen Weise von struktureller Gewalt betroffen, da sie in der Verwirklichung ihrer Lebenschancen im besonderen Maße abhängig sind von gesetzlich festgelegten Vorgaben und der Vielfalt ihrer Auslegungsmöglichkeiten. Hierunter fallen z. B. die Bewilligung von finanziellen Mitteln, Assistenz, Maßnahmen zur beruflichen Integration etc. Die rechtlichen Gesetze und die Menschen, die sie auslegen, legen fest, -und das oft in unüberschaubarer Art und Weise- was für wen und was für wen nicht wie und wann bewilligt und finanziert wird. Die Vielfalt ihrer Auslegungsmöglichkeiten macht es den Frauen oft unmöglich, einen individuellen Weg der Bewältigung einer Behinderung oder Krankheit zu gehen. Die Erfahrungen von struktureller Gewalt sind nicht zwangsläufig traumatisierend, führen aber zu einem Verlust an Lebensqualität und Selbstwertgefühl, sodass eine Folge von struktureller Gewalterfahrung eine zunehmende Kränkbarkeit, psychosomatische Beschwerden und Depressionen sein kann.

Strukturelle Gewalt in Institutionen

Wenn strukturelle Gewalt institutionalisiert ist, dann steigt auch die Gefahr, dass sich die persönliche und direkte Gewalt verfestigen (Olbricht, 2004). Nach Zemp (1996) weist jede Institution, in der Menschen mit Behinderung leben, strukturelle Gewaltmomente auf, die die individuelle Gewalt fördern. Strukturelle Gewalt in Institutionen äußert sich z. B. in der zwangsgemeinschaftlichen Unterbringung: „Betroffene können in den seltensten Fällen mangels verfügbarer Plätze die Institution frei wählen, sie können keine Wünsche äußern bezüglich der Gruppengröße und der Menschen, mit denen sie tagtäglich so nahe zusammen leben. Ebenso selten haben sie ein Mitbestimmungsrecht bei der Einstellung des Pflegepersonals“ (ebd.). Weiter wird nach Zemp in den meisten Institutionen der Respektierung der Intimsphäre zu wenig Beachtung geschenkt. „Auch wenn mittlerweile die meisten Bewohner und Bewohnerinnen in einem Einzelzimmer wohnen, so besitzen die wenigsten einen Schlüssel dazu, und Personal und Mitbewohner und Mitbewohnerinnen betreten diesen Privatraum in der Regel ohne anzuklopfen, oder wenn, dann ohne eine Antwort abzuwarten“ (ebd.). Häufig können die Bewohner und Bewohnerinnen angesichts des Mangels an Betreuungspersonal nicht wählen, von wem sie Hilfe erhalten möchten. Laut Zemp üben auch Heimbewohner und -bewohnerinnen untereinander Gewalt aus. So wird häufig die (strukturelle oder personale) selbst erfahrene Gewalt an den nächst Schwächeren weiter gegeben. Nach einer Studie von Zemp und Pircher (1996) sind 60 % der Täter mit Behinderung selbst Opfer von sexueller Gewalt gewesen.
Die Strukturen eines Heimes zwingen die Bewohner und Bewohnerinnen sowie das Personal, sich bestimmten Regeln zu unterwerfen. Dies hat zur Folge, dass sie sich ständig den Gegebenheiten anzupassen haben, sich arrangieren und gezwungen sind, eigene Interessen und Bedürfnisse in den Hintergrund zu stellen, was der Entwicklung zu einer eigenständigen und selbstbewussten Persönlichkeit fundamental entgegensteht und die Möglichkeiten zur Abgrenzung stark erschwert. Die mangelnde Selbstbestimmung, sowie die mangelnde Respektierung ihrer Intimsphäre häufig von Kindheit an, hat zur Folge, dass Frauen mit Behinderung leicht zu Opfern von physischer, psychischer und in hohem Maße von sexueller Gewalt werden können. Zusammenfassend lässt sich der starke Zusammenhang von struktureller und personaler Gewalt feststellen. In der Präventionsarbeit gegen Gewalt von Frauen mit Behinderung reicht es daher nicht aus, die personale Gewalt zu bekämpfen, ohne dabei die strukturellen Gewaltstrukturen zu hinterfragen, da dies oft eine Symptombehandlung darstellen würde, die erneute Gewalt nach sich ziehen würde.

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